Heimat wird meist mit Stolz auf sie verbunden. Viele sind auf ihre Heimat stolz: vielleicht wegen der landschaftlichen Schönheit dort, wo sie hineingeboren wurden. Geografisch gesehen gibt es erstens Unterschiede in der Schönheit, und zweitens können wir uns nicht unbedingt etwas auf das Heimatland einbilden, weil wir doch selbst mitunter nicht viel dazu beitragen können (außer Blumen an die Fenster oder Müll in die Kübel). Heimat müsste vielmehr mit Wohlfühlen in jeglicher Hinsicht zu tun haben. Dazu können wir tatsächlich vielerlei selbst beitragen – und dann zu Recht darauf stolz sein.
Hass zählt nicht dazu. An seiner Stelle sollte etwas entstehen, was schon in Adam Smith’s Theorie moralischer Gefühle (1759) angesprochen wurde und heutzutage als emotionale Intelligenz (Eva Illouz) interpretiert und darüber hinaus auch als soziale Intelligenz bezeichnet wird. Der Grundgedanke ist dabei nicht das, was uns als gut oder schlecht eingebläut wird und was wir unkritisch als moralische Pflicht übernehmen; das haben schon Arthur Schopenhauer als „Sklavenmoral“ und Friedrich Nietzsche als Herrschaftsinstrument kritisiert. Im Wesentlichen geht es um Zweckmäßigkeit, um rational durchdachtes Verhalten, das es den Menschen als Teil der Gesellschaft – nicht als Inseln unter lauter Männern, Frauen und Familien, wie Margaret Thatcher meinte – ermöglicht, kooperativ, solidarisch und angstfrei miteinander zu leben. Dazu braucht es das „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ eben nicht (obwohl es helfen mag).
Selbst der viel zitierte, aber auch geschmähte Kategorische Imperativ von Immanuel Kant (flapsig: Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg auch keinem anderen zu) stellt auf Gegenseitigkeit ab, zielt auf die allseitige Vertrauensbildung ab, durch mein eigenes Verhalten zu erwirken, dass andere – zuverlässig – mir ebenso unvoreingenommen, verstandesgemäß, fair und hilfreich entgegenkommen. Die Bereitschaft zu Verstandeshandeln, Fairness und Solidarität ist allerdings durch opportunistisches Denken gefährdet. Die Starken mögen auf die Fortdauer ihrer Macht vertrauen und sich deshalb nicht solidarisch verhalten, weil sie auf ein unsolidarisches Sozialverhalten (einstweilen) nicht angewiesen sind. Das hat der große politische Philosoph des 20. Jahrhundert, John Rawls, erkannt.
Auf der Basis von Rawls‘ Gedanken können wir darauf verweisen, wie wichtig soziale Durchlässigkeit und Mobilität und letztlich Chancengerechtigkeit sind. So sollten sich auch die Mächtigen bewusst sein, dass ihre Position nicht nur ererbt, erarbeitet oder erschlichen, sondern auch zufallsbedingt, kontingent (umweltbedingt i.w.S.) und schicksalhaft ist. Die Lotterie der Welt und des Lebens ist für riesige Überraschungen immer gut. Dafür können wir im Eigen- wie im Gesellschaftsinteresse vorkehren. Das sollte auch den verunglimpfenden Diskurs über die „Gutmenschen“ relativieren (Horst-Eberhard Richter); besser sind sie als Vernunft- oder Gemeinschaftsmenschen zu bezeichnen. Wir brauchen sie und ihre Basisinitiativen (grassroot movements) als Vordenkerinnen und Speerspitzen eines Humanismus, der den Menschen nicht als Insel sieht, sondern als Baustein einer Gesellschaft, die für alle das Beste tut, zuvorderst – John Rawls folgend – für die Benachteiligten und Schwachen.
Heimat, auf die wir stolz sind, können wir uns schaffen, wo es eben möglich und erwünscht ist; das ist nicht unbedingt im Geburtsland. Wer dort keine Heimat finden kann, weil ihr oder ihm die grundlegende Humanität verwehrt wird, sollte eine Heimat wohl anderswo suchen dürfen und finden können. Die allgemein anerkannten Grundrechtsnormen und entsprechenden internationalen Abkommen definieren doch recht genau, was sich die Welt oder zumindest der größte Teil von ihr als Grundanspruch auf menschenwürdige Lebensverhältnisse denn so vorstellt. Selbst wenn es zunächst primär Lippenbekenntnisse sind, werden die erhobenen Ansprüche in schier permanenten Debatten konkretisiert und in Rechtsprozessen weiterentwickelt. So wurde der Antidiskriminierungstatbestand Geschlecht auf die Inhalte sexuelle Orientierung und Identität erstreckt und mittlerweile als absoluter Asylgrund akzeptiert (wenn auch noch nicht zuverlässig verankert). In Österreich war und ist lesBiSchwule Antidiskriminierung ein langer und mühsamer Weg – gegen die zähe Hinhaltetaktik von Konservatismus und Reaktionismus, Extremismus, Demagogie und billigem Populismus.
Homosexualität ist an und für sich kein gesellschaftlich relevantes Thema; niemand kann zu einer sexuellen Orientierung gezwungen werden. Gleichgeschlechtliche Sexualität muss nur leider zum Thema gemacht werden. Ein ganz gewöhnliches, gutes Leben in der Gesellschaft ist nämlich ein Grundrecht – auch in gleichgeschlechtlichen Beziehungen (von One-Night Stands bis Ehen). Es räumt immerhin Menschenwürde ein, verlangt aber von den anderen nicht mehr als bloße Gleichmut und Toleranz (im schlechtesten Fall) oder emotionale und soziale Kompetenz (im besten Fall). Toleranz ist freilich nicht immer eine Form der Vernunft; in diesem Sinn wäre der Intoleranz mit Intoleranz zu begegnen, so die Soziologin Jane Lewis, aber auch Gesprächsoffenheit, wie ich meine.
Bedenken wir: Wie rasch kann in den laufenden Wirtschafts-, Gesellschafts- und Politikentwicklungen eine bisher relativ wenig diskriminierte Gesellschaftsgruppe verfemt und zu einer Opfergruppe abstempelt werden! Mit irgendeinem Vorwand (Verteilungsstreit, Religionsmission, historischer Revanchismus, …) oder auf der infamen Suche nach irgendeinem – unschuldigen – Sündenbock können Menschen leicht ihrer Grundrechte beraubt werden. Da stellt sich die Frage, wer denn demnächst zum Freiwild gemacht und in die Schusslinie gebracht wird. Homosexuelle, Wirtschaftsmagnaten, Politiker_innen, Beamtenschaft, emanzipierte Frauen, Arbeitslose, Pensionierte, …? Halali.
Verhetzung ist leider ein wirksames Mittel zur sozialen Ächtung und Verfolgung, setzt es doch die emotionale und soziale Intelligenz außer Kraft und wird noch dazu vom Strafgesetz mit vornehmer Zurückhaltung verfolgt. Das nächste Ziel ist die Dehumanisierung, die Entmenschlichung menschlicher Wesen durch Beraubung ihrer Würde, Rechte und Unverletzlichkeit. Wenn einmal in vielen Köpfen verankert ist, es sei eine moralische Pflicht, bestimmte Menschen als Unmenschen zu deklarieren und zu verfolgen, schadet sich die Gesellschaft damit selbst: Die Sündenbockstrategie geht auf, die Schlachtung folgt, die Vertuschung wahrer Missstände gelingt und illegitimer Machtausübung sind Freiräume geschaffen. Das gilt auswärts, und wir verweigern von dort Flüchtenden den Schutz; und das gilt im eigenen Land, wo wir nicht Flüchtenden ein humanes Leben verwehren.
Einen Bruch in der emotionalen, sozialen und politischen Intelligenz stellte die längst vergangene Wende dar, nach der wir nun nicht mehr nur über die Begrenzung wirtschaftlich motivierter Einwanderung debattieren. Vielmehr erwägen wir und probieren, mehr oder weniger offen, Einschränkungen für die zu Recht Flüchtenden und Asyl Suchenden. Dieser allgemeine Dammbruch gesellschaftlichen Unverstands hat speziell auch mit Homosexualität und ihrer Verteufelung zu tun.
Einem schwulen afghanischen Flüchtling wird geraten, in sein Land zurückzukehren, um dort eine Frau zu nehmen, weil ihm dann eh nichts passiere. Ein schwuler kosovarischer Flüchtling wird in einem Aufnahmezentrum von anderen – sogar von berechtigt flüchtenden – Asylwerbern fast ungehindert gemobbt, so dass er freiwillig in sein Land zurückkehrt, wo er erst vor kurzem dem Ehrenmord durch seine Familie knapp entkommen ist. Ein schwuler irakischer Flüchtling, noch dazu einer mit passiver sexueller Ausrichtung und weiblicher Attitude, kann nicht heimkehren, denn er hat dort keine Heimat, nur einen Angst- und Sterbeort (Todesschwadrone warten). Das langsam aussterbende Argument, wir hätten damals im Krieg auch nirgendwohin flüchten können, ist kein vernünftiges; es fördert Gewalt und Revanchismus, festigt Rechtlosigkeit und Ungerechtigkeit, begrenzt das Sichtfeld mit dem Tellerrand. Das Argument, das Boot sei voll, zeugt meines Erachtens von schlechter Politik im Inland, und zwar in nahezu jeder Hinsicht, hauptsächlich aber unter dem Verteilungsaspekt.
Homophobie ist sowohl Angst vor als auch Hass auf Homosexuelle. Doch sie ist in der Tat unbegründet. Geschürt wird sie von der mental und institutionell verankerten Heteronormativität, der Verabsolutierung verschiedengeschlechtlicher Sexualbeziehung als Wert an sich oder als Überlebensbedingung für die Welt. Abgesehen davon, dass diese Werthaltung und Befürchtung aus humanwissenschaftlicher Perspektive nicht fundiert sind, machen sie aus dem inneren Wert der Heterosexualität einen der Homosexualität untrennbar anhaftenden Unwert und entmenschlichen gleichgeschlechtlich orientierte Menschen. Gerade darauf fußt dann die eingeimpfte Überzeugung, mit Diskriminierung Gutes zu tun und Antidiskriminierung bedingungslos bekämpfen zu müssen (so wie dies religiöse Fundamentalist_inn_en tun – auch in den USA und von dort aus weltweit agitierend).
Gut und Böse, weder begründet noch hinterfragt, werden Herrschaftsinstrumente. Diese kaschieren und verfestigen die wahren gesellschaftlichen Unzweckmäßigkeiten. So ist Extremismus in Gesellschaft und Politik nicht nur für die Sündenböcke gefährlich, sondern mittelbar für alle: für jene, die meinen, Sündenböcke schlachten zu müssen (sie sind ja gar keine Menschen, oder?), für jene, die gern beim Schlachtfest zusehen oder die einfach nichts dagegen sagen, geschweige denn tun.
Keine Angst, die Befürwortung der gesellschaftlichen Emanzipation der Homosexuellen aus dem heteronormativen Normensystem macht die Heteros nicht schwul oder lesbisch, aber hilft, dass unfreie, unter- und bedrückte, oft gar versteckte Lesben und Schwule ein menschenwürdiges Leben führen können. Ganz langsam und sachte macht sich diese Ahnung auch schon im konservativen Lager breit. Mal sehen! Reden wir uns aber bitte nicht auf Gesellschaft und Politik aus, denn wir alle sind Gesellschaft und wir alle machen – mehr oder weniger direkt – Politik.
Solche Solidarität kostet wenig, aber bringt viel – und allen etwas. Vielleicht überwinden wir die innere Reserviertheit und tragen wir doch noch das Unsere zum Gemeinsamen bei, beziehen zumindest Stellung.
Rainer Bartel, Johannes Kepler Universität (JKU) Linz (www.econ.jku.at/Bartel, Homosexuelle Initiative (HOSI) Linz (www.hosilinz.at), 12.11.2014
Literatur:
- Bartel, Rainer u.a. (Hg.innen) 2008: Heteronormativität und Homosexualitäten. Studienverlag: Innsbruck u.a.
- Bartel, Rainer 2010: Alle sind gleich – manche sind gleicher. Sozialwissenschaftliche Argumente, Befunde und Folgerungen zur Anti-/Diskriminierung auf Grund sexueller Orientierung. Studie, http://www.econ.jku.at/members/Bartel/files/Homepage/%28100504_Alle_sind_gleich%29.pdf [12.11.2014]
- Grabner-Haider, Anton (Hg.) 2012: Die wichtigsten Philosophen. 3. Auflage, Marixverlag: Wiesbaden
- Illouz, Eva 2009: The culture of management: self-interest, empathy and emotional control. In: Ziegler, Rafael (ed.), An Introduction to Social Entrepreneurship, Edward Elgar Publishing: Cheltenham: pp. 107-132
- Lewis, Jane 2001: The End of Marriage: Individualism and Intimate Relations.Edward Elgar Publishing: Cheltenham – Northampton (MA)
- Rawls, John 1995: Gerechtigkeit als Fairneß: politisch nicht metaphysisch. In: Honneth, Axel (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Campus-Verlag: Frankfurt – New York, S. 36-67
- Richter, Horst-Eberhard 1999: Lernziel Solidarität heute. Vortragsmanuskript, Berlin, 25.11., http://www.efb-berlin.de/fileadmin/templates/pdfs/archiv-12-04-2013/richter_25-11-99.pdf [12.11.2014]
- Smith, Adam 1759: Smith, Adam (1759), Theorie der ethischen Gefühle, Verlag Meiner: Hamburg 1994